Dolmetscher: Die einzig wahren Multitasker

Thema: Dolmetschen
Umfang: 7488 Zeichen
Geeignet für: Zeitung, Zeitschrift, Firmenzeitschrift, Website
Bisher veröffentlicht in: neu

„Reden Sie ruhig weiter. Ich höre Ihnen zu …“, ermuntert Benni den Personalchef. Der 18-Jährige sitzt mit gesenktem Kopf vor dem Schreibtisch. Während der Leiter der HR-Abteilung sich bemüht, das Unternehmen vorzustellen, scrollt der Schüler geistesabwesend auf seinem Samsung Galaxy S20+. Es ist das erste Mal, dass er eine Einladung zum Vorstellungsgespräch bekommen hat. Unverschämt? Respektlos? In Teamsitzungen großer Industrieunternehmen ist es längst üblich, dass mindestens die Hälfte der Mitarbeiter E-Mails checkt und Nachrichten beantwortet, während der Kollege vorne die neuesten Zahlen präsentiert – und das nicht heimlich und verschämt, sondern völlig offensichtlich. Eigentlich nicht minder respektlos als das Verhalten des 18-Jährigen. Die Message ist klar: Was du gerade erzählst, interessiert mich nicht.

Damit konfrontiert, hat der nette Kollege natürlich gleich eine plausible Erklärung parat: „Keine Sorge, ich habe alles gehört. Ich bin eben multitaskingfähig, das habe ich trainiert. Ich kann eben gleichzeitig zuhören und wichtige Mails beantworten.“ Wie weit es mit dieser Kompetenz her ist, zeigt sich spätestens am Tag nach der Sitzung, wenn – per E-Mail – Fragen gestellt werden, die im Meeting eindeutig geklärt wurden. Mangelndes Talent? Oder schlicht fehlende Reflexionsfähigkeit, gestörte Selbstwahrnehmung? Und irgendwas muss doch dran sein an diesem Multitasking! Kann man das nicht doch irgendwie lernen?

Man kann. Die Ausbildung dauert mindestens zwei Jahre, meist jedoch wesentlich länger. Sie verlangt viel Selbstdisziplin, Fleiß, Mut und Respekt. Die Lernenden müssen kritik- und konzentrationsfähig sein und eine sehr gute Allgemeinbildung mitbringen. Wer es schafft, gehört am Ende zu der Berufsgruppe, die Multitasking zu ihrer Profession gemacht hat: Dolmetscherinnen und Dolmetscher (engl. interpreter). Dolmetscher übertragen das gesprochene Wort – das heißt Reden, Nachrichten, Verhandlungen oder auch ein Arztgespräch – von einer Sprache in eine andere. Um diese enorme Leistung erbringen zu können, müssen sie in der Ausbildung üben, üben und nochmals üben, wie man „gleichzeitig“ („simultan“) oder zeitlich versetzt („konsekutiv“) hört und spricht.

Daniel Gile, Konferenzdolmetscher und Professor an der Sorbonne, hat ein Modell entwickelt, das aufzeigen soll, welche komplexen Prozesse beim Dolmetschen im Kopf ablaufen. Seine Theorie: …

Autorin/Urheberin: Anna Kiefer

 

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