„Man muss hinter die Wörter schauen.“

Thema: Beruf Übersetzerin
Umfang: 9944 Zeichen
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Interview: Von Zielgruppen, Kriegen, Anatomie und Automaten: Zwei Übersetzerinnen erzählen von ihrem Arbeitsalltag.

Was bedeutet für euch Übersetzen?
Claudia Seebothe: Für mich ist das die Übertragung schriftlicher Texte von einer Sprache in eine andere. Im Gegensatz zum Dolmetschen geht es beim Übersetzen um Texte. Hier ist es wichtig, sich die Zielgruppe vor Augen zu führen: Welche Wirkung hatte der Text bei der Originalzielgruppe? Wie muss man ihn für die neue Zielgruppe in die andere Sprache übertragen, damit er wirkt?
Andrea Erdmann: Genau, für eine gute Übersetzung spielt der anzusprechende Adressatenkreis von Anfang an eine Rolle – Auftraggebern ist das oft nicht klar. Und was für mich auch untrennbar zum Übersetzen gehört, ist Kreativität. Zwar ist hier eine andere Kreativität als beim Dolmetschen gefragt, aber Sprache, egal ob gesprochen oder in fixierter Form, hat immer viele Facetten. Und je nach Textart sind auch Zeit und Muße unabdingbar mit einer (guten) Übersetzung verknüpft.

Das heißt, Übersetzer brauchen mehr als nur ein Wörterbuch und Fremdsprachenkenntnisse …?
Claudia Seebothe: Man kann nicht einfach ein Wort nach dem anderen übertragen, sondern muss hinter die Wörter schauen. Wörter haben eine Bedeutung: Es ist wichtig, das richtige Wort für den jeweiligen Kontext herauszufiltern. Fremdsprachenkenntnisse und Wörterbücher sind eine gute Basis, reichen aber nicht aus. Man muss wissen, wie man recherchiert. Übersetzer müssen in der Lage sein, Quellen zu bewerten. Auch Kulturkenntnisse gehören zwingend dazu. Das wird oft unterschätzt – etwa, wenn es um aktuelle politische Diskussionen oder Entwicklungen geht.
Andrea Erdmann: Das ist auch ein Grund, warum maschinelle Übersetzungen oft unzureichend oder auch einfach nicht flüssig zu lesen sind. Man braucht dann mehrere Anläufe, um wirklich den Sinn zu erfassen. Vieles lässt sich nicht 1:1 übertragen, da muss man auch schon mal länger überlegen oder recherchieren. Manchmal muss man mehrere Varianten austesten. Und ohne gute Allgemeinbildung geht natürlich gar nichts.
Claudia Seebothe: Bei Marketingtexten muss man spielen, ausprobieren: Wie wirkt das? Bei anderen Themen gibt es sehr sensible Wörter, die in einem Land selbstverständlich verwendet werden können, in anderen Ländern hingegen ganz andere Assoziationen wecken.

Habt ihr ein Beispiel dafür?
Claudia Seebothe: La Grande Guerre bedeutet wörtlich übersetzt Der Große Krieg. Als Deutsche geht man automatisch davon aus, dass es sich dabei um den Zweiten Weltkrieg handelt. Tatsächlich ist damit aber der Erste Weltkrieg gemeint, der im französischen kollektiven Gedächtnis viel stärker verankert ist, weil viele große Schlachten in Frankreich stattgefunden haben und es hohe Verluste gab, zum Beispiel in Verdun. Das muss man als Übersetzerin wissen, damit man hier nicht in eine falsche Richtung geht.
Andrea Erdmann: Zur Stilblüten-Hitliste gehören Automodell-Bezeichnungen wie zum Beispiel e-tron (Audis Elektroauto). Wenn ein Franzose das ausspricht, klingt es genauso wie das französische Wort für Kot beziehungsweise Kothaufen (étron). Und Uno (Fiat Uno) bezeichnet im Finnischen einen Trottel. Auch Toyotas MR2 kam in Frankreich nicht so gut an: MR2 wird dort je nach individueller Aussprache mit merde (Scheiße) oder merdeux (beschissen beziehungsweise Rotznase) assoziiert. Mittlerweile heißt dieses Modell in Frankreich nur noch MR.

Was war euer schwierigster Text?
Andrea Erdmann: Das war eine Übersetzung aus dem Bereich Medizingeschichte, in der es um anatomische Entdeckungen aus dem 17. Jahrhundert ging. Der Autor hatte sowohl die lateinische Originalquelle in seinen Aufsatz eingebaut als auch die gleiche Passage auf Französisch – allerdings in dem Französisch, das man im 17. Jahrhundert sprach. Zwei Details in jener französischen Passage waren mir auch nach mehrmaligem Lesen, Einarbeitung in das Thema und Sichtung anderer zeitgenössischer Quellen nicht wirklich klar. Eine Rückfrage beim Verlag beziehungsweise beim Autor ergab schließlich, dass dieser sich bei der Aufbereitung der Textpassagen auf Experten für diese alten Sprachen verlassen und sich nicht detailliert mit der Quelle auseinandergesetzt hatte. Es bedurfte einiger E-Mails, bis die stimmige Übersetzung der alten französischen Sätze ins Deutsche stand.
Claudia Seebothe: Bei mir war es die Übersetzung von Werbebroschüren für Treppen. Neben den Marketingformulierungen gab es darin auf einer Seite immer ein Bild zur Statik der Treppe. Dieses Bild war mit Fachausdrücken aus dem Bereich Statik beschriftet – immer nur ein Begriff, ohne Zusammenhang. Ich habe beim Kunden angerufen und mir die Begriffe erklären lassen. Die Recherche für die Begriffe in der Zielsprache war dann sehr umfangreich, weil auf den ersten Blick nicht ersichtlich war, ob doch eher dieser oder jener Terminus passt. Das hat die Bearbeitungszeit natürlich extrem verlängert.

Was war euer lustigstes Erlebnis als Übersetzerin?
Claudia Seebothe: Ich muss bei kreativen Texten oft schmunzeln. Gerade hatte ich einen Text in amerikanischem Englisch, der für unser deutsches Empfinden wenig „handfest“ war. In jedem zweiten Satz wurde betont, wie „great“ das Unternehmen ist. Das wirkt auf mich manchmal etwas zu enthusiastisch. Das funktioniert im Deutschen weniger, hier wollen die Kunden Fakten und Argumente.
Andrea Erdmann: Ein Privatkunde brachte mal zwei französischsprachige Arztberichte sowie Kopien seiner Ausweisdokumente zur Übersetzung. Dass er eine Übersetzung benötigte, drückte er so aus: „Sie brauchen das nur noch ins Deutsche umzuschreiben!“ Mit einem Lächeln wies ich ihn darauf hin, dass ein Übersetzungsprozess in der Regel mit „nur noch umschreiben“ nicht ganz realistisch beschrieben ist, und schlug ihm dann vor, die Dokumente zunächst einzuscannen, um die Zeilenzahl und so einen ungefähren Preis ermitteln zu können. Ich legte also das erste Dokument in den Scanner, der dann zu rattern begann, was mein Kunde interessiert verfolgte. „Aah, so wird das heutzutage gemacht!“ meinte er dann. Ganz offenbar dachte er, mein Scanner sei eine Art Übersetzungsautomat.

Dolmetscht ihr auch?
Claudia Seebothe: Nein. Als ich noch angestellt war, habe ich Verhandlungen bei geschäftlichen Treffen gedolmetscht. Dabei habe ich für mich festgestellt, dass mir das nicht genug Freiraum lässt. Beim Dolmetschen muss man das gesprochene Wort übertragen und hat gar keine Zeit, groß über Formulierungen und ihre Wirkung nachzudenken. Das mag ich am Übersetzen, dass man hier Zeit hat, die beste Wirkung auszuprobieren, kreativ zu werden.
Andrea Erdmann: Ja, aber nur beim Standesamt, bei der Polizei und bei Patientengesprächen. Leider wird Letzteres in der Regel so schlecht vergütet, dass ich das mit meinen anderen Aufträgen auffangen muss. Deswegen kann ich hier nur sehr begrenzt Aufträge annehmen, obwohl mir diese Aufgabe liegt und es eine willkommene Ergänzung zur reinen Bildschirmarbeit ist.

Welche Erfahrungen habt ihr mit Post-Editing?
Andrea Erdmann: Gar keine. Bei den Anfragen, die ich bisher hatte, war sehr schnell ersichtlich, dass es für mich nicht wirtschaftlich ist, den Auftrag anzunehmen.
Claudia Seebothe: Sehr unterschiedliche! Ich hatte schon Texte, die maschinell vorübersetzt worden waren, bei denen ich kaum Änderungen vornehmen musste. Bei einigen Textsorten hatte ich das wirklich nicht erwartet. Gleichzeitig hatte ich aber auch Texte, bei denen es nicht funktioniert hat.

Hast du ein Beispiel dafür?
Claudia Seebothe: Einmal hatte ich eine Umfrage zum Thema Altern, bei der ich extrem viel nacharbeiten musste. Das lag daran, dass das Programm, mit dem die Umfrage erstellt wurde, vor allem mit Texten aus dem Marketingbereich „gefüttert“ worden war. In der Umfrage ging es aber eher um subjektive Empfindungen, Haltungen und persönliche Eindrücke. Die Maschine übersetzte den Begriff key concern mit „größte Herausforderung“. Das traf aber hier im konkreten Satz nicht das, was gemeint war. Ich habe es so umformuliert: „Was sind Ihre größten Ängste und Sorgen?“
Auch schön war der maschinell übersetzte Satz aus einer Produktbeschreibung: „Biegen Sie das Maul Ihres Kindes auf“.

Was empfehlt ihr Auftraggebern, die einen guten Übersetzer suchen?
Claudia Seebothe: Falls sie noch niemanden an der Hand haben und einen guten Übersetzer suchen, würde ich ihnen die Datenbank des Bundesverbandes der Übersetzer und Dolmetscher (BDÜ) empfehlen. Die Übersetzer, die dort Mitglied sind, haben eine Ausbildung oder ein Studium als Übersetzer absolviert und sind damit fachlich qualifiziert. Außerdem würde ich darauf achten, ob der Übersetzer auch Korrekturlesen anbietet oder nach dem Vier-Augen-Prinzip arbeitet.
Andrea Erdmann: Ich finde die Mitgliedschaft in einem Berufsverband ebenfalls sehr sinnvoll, zumal die Bezeichnung Übersetzer nicht geschützt ist. Außerdem ist es in jeder Hinsicht von Nutzen, wenn Übersetzer sich fortbilden, im Austausch mit Fachkollegen stehen und Projekte auch im Team übernehmen können. Und zu guter Letzt würde ich immer kleinere Büros vorziehen, sodass man einen direkten Ansprechpartner beziehungsweise idealerweise unmittelbaren Kontakt zum Übersetzer hat. So kommen wichtige Informationen ohne Umwege an. Und wie schon erwähnt ist es sehr von Vorteil, dem Übersetzer bereits bei der Anfrage Angaben zur Zielgruppe machen zu können, denn sie ist oft ein wichtiger Baustein für eine gute Übersetzung.

Autorin/Urheberrecht: Anna Kiefer

 

Claudia Seebothe übersetzt seit 2 Jahren Marketingtexte aus dem Französischen und Englischen ins Deutsche.
Andrea Erdmann übersetzt seit 22 Jahren aus dem Französischen ins Deutsche. Ihr Schwerpunkt liegt in den Bereichen Medizin, Vertragsrecht und Hohlglasindustrie.
Anna Kiefer übersetzt vor allem medizinische Texte aus dem Englischen und Polnischen ins Deutsche. Außerdem schreibt sie Beiträge für Zeitungen und Fachzeitschriften, aber auch für Websites, Newsletter und Broschüren. Weitere Beispiele und Texte: https://sprache-medizin.de/aus-meiner-feder/

 

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