Ausgerechnet Weihnachtsmarkt? Ein Ausflug mit Geflüchteten
Thema: | Geflüchtete, Weihnachten |
Umfang: | 3788 Zeichen |
Geeignet für: | Referenzartikel |
Bisher erschienen in: | Die Rheinpfalz, 2014 |
Germersheim/Speyer: Ohne Berührungsängste und fasziniert von christlicher Tradition und Brauchtum. Germersheimer Studentinnen besuchen mit Flüchtlingen den Weihnachtsmarkt in Speyer.
Vor der Uni treffen wir uns: Vier Germersheimer Studentinnen, zehn Geflüchtete und ich, die noch niemanden kennt. Wir wollen nach Speyer, zum Weihnachtsmarkt. Organisiert wurde der Ausflug von der studentischen Initiative Cross Borders. Während wir zum Bahnhof spazieren, beschäftigt mich vor allem eine Frage: Ist es nicht ein wenig ironisch, Geflüchteten ausgerechnet den Weihnachtsmarkt zu zeigen, wo man kurz vor dem Fest nochmal so richtig Geld ausgeben kann für Glühwein und Geschenke? Dazu die ständig dudelnde Heile-Welt Musik … zum Glück ist es nicht so kalt.
Im Zug frage ich Karim [Name zum Schutz der Betroffenen von der Autorin geändert], der vor drei Monaten über Ungarn und Österreich nach Germersheim gekommen ist: „Warst Du schon mal auf einem größeren Weihnachtsmarkt?“ Der Syrer verneint. Er ist auch kein Christ, sondern Muslim. Aber das spielt für ihn keine Rolle – er möchte die deutsche Kultur kennenlernen. In seiner Heimat hat der 27-Jährige vier Jahre als Geographielehrer gearbeitet. Nun paukt er täglich in seiner Einzimmerwohnung in Sondernheim deutsche Grammatik – und hört dazu Mozart, Bach oder Beethoven.
Als wir in Speyer ankommen, beginnt es bereits, dunkel zu werden. Gemächlich schlendern wir über das Altpörtel Richtung Dom und legen einen kurzen Zwischenstopp ein für ein Gruppenfoto: Ibrahim [Name zum Schutz der Betroffenen von der Autorin geändert] aus Ägypten ist Fotograf und hat derzeit eine Fotoausstellung im Haus Interkultur in Germersheim. Viele der durchweg gut gekleideten jungen Leute haben eine Ausbildung oder ein Studium abgeschlossen – nicht so Hanad [Name zum Schutz der Betroffenen von der Autorin geändert], der am liebsten ein Handwerk erlernen möchte. Mit wachen Augen erklärt der Somalier, wie wichtig eine gute Schulbildung ist. Ihm selbst blieb sie verwehrt, weil in seinem Heimatland seit 26 Jahren Krieg herrscht – er selbst ist 27. Das Schlimmste ist für ihn die Untätigkeit, zu der man als Asylsuchender während der ersten neun Monate gezwungen ist: „Man verliert kostbare Zeit, in der man einen Beruf erlernen könnte. Jeden Tag weiß man schon beim Aufstehen, dass man nichts, aber auch gar nichts tun darf, um die eigene Situation zu verbessern.“ Ob er manchmal neidisch sei auf das im Vergleich dazu sorglose Leben der Deutschen? „Nein“, sagt Hanad und lacht. „Menschen sind wie unsere Finger. Manche sind länger oder kürzer, dicker oder dünner. Einige haben Träume und nutzen ihre Chancen, andere nicht – das ist bei Deutschen so, aber auch bei somalischen Landsleuten.“
Mittlerweile sind wir bei einem Getränkestand angekommen und gruppieren uns um zwei überdachte Stehtische. Die meisten Flüchtlinge sind Muslime und trinken keinen Alkohol, aber den heißen, duftenden Apfelpunsch finden alle gut. Mohammed weiß gutes Essen besonders zu schätzen: Auf seiner Flucht aus Kuwait hat der 33-Jährige sich sechs Tage lang hauptsächlich von Nahrungsmittelkonzentraten ernährt. Für diesen „Service“, den „sicheren“ Transport als blinder Passagier in einem Container, hat er einem Schleuser umgerechnet 7 000 Euro gezahlt.
Dennoch erzählt er ruhig und ohne Bitterkeit, genau wie Karim und Hanad. Karim ist fasziniert von der christlichen Tradition und möchte alles wissen über Weihnachtsgeschichte, Krippe, Adventskranz und die Bibel. Über eine Stunde lang reden wir über Weihnachtsbräuche, die Weltreligionen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Islam und Christentum. Als wir im einsetzenden Nieselregen den Rückweg antreten, ist es für mich überhaupt keine Frage mehr, ob man mit Geflüchteten einen deutschen Weihnachtsmarkt besuchen kann.
Autorin/Urheberrecht: Anna Kiefer
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